Leitdokument für die Stadtentwicklung in Europa: Die Neue Leipzig-Charta

Edited on 17/12/2020

Am 30. November 2020 haben die für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Minister der europäischen Mitgliedstaaten die Neue Leipzig-Charta verabschiedet. Das informelle Ministertreffen unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft fand aufgrund der Corona-Pandemie online statt. Bei der Veranstaltung gratulierten die Mitgliedstaaten, EU-Kommissarin Ferreira, das Europaparlament, weitere EU-Institutionen, die OECD sowie europäische Regionen und Städte zu dem gelungenen neuen europäischen Leitdokument für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Positiv hoben sie insbesondere hervor, dass die Charta den Fokus auf Gemeinwohlorientierung und handlungsfähige Kommunen richte. Dies spiegelt auch der Titel „Die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl“ wider. Die Charta bietet einen strategischen Kompass, an dem sich Gemeinden, Städte und Metropolen aller EU-Mitgliedstaaten ausrichten können. Entscheidend wird es jetzt allerdings sein, inwieweit das Leitdokument seinen Weg in die kommunale Praxis findet. Dafür müssen alle Ebenen ihren Beitrag leisten und unterstützende Rahmenbedingungen schaffen: Die Städte selbst, die Regionen und Nationalstaaten, ebenso wie die EU und die europäischen Institutionen.

Die Neue Leipzig-Charta beruft sich auf das bekannte Nachhaltigkeitsdreieck und spricht sich für eine sozial gerechte (just), grüne (green) und wirtschaftlich produktive (productive) Stadt aus. Damit europäische Kommunen diese drei eng miteinander verknüpften Dimensionen erreichen können, gibt ihnen das Dokument fünf Schlüsselprinzipien an die Hand:

  • Gemeinwohlorientierung, also ein ausreichendes Angebot von Infrastrukturen, Leistungen der Daseinsvorsorge und von bezahlbarem Wohnraum für alle Menschen;
  • integriertes Vorgehen und Arbeiten zwischen einzelnen Fachbereichen und über verschiedene Ebenen hinweg;
  • Teilhabe und Co-Creation im Sinne einer echten Mitgestaltung der gesamten Stadtgesellschaft bei Stadtentwicklungsvorhaben;
  • Mehrebenen-Zusammenarbeit (Multi-Level-Governance) aller politischen Verwaltungsebenen sowie aller gesellschaftlichen Akteure inklusive Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft;
  • sowie eine ortsbezogene Herangehensweise (place-based approach), die sich an lokalen Anforderungen orientiert und passgenaue Lösungen findet.

Sie nimmt dabei sowohl das Quartier, als auch die Gesamtstadt und die Stadtregion (functional area) als Handlungsfelder in den Blick. Bei letzterer (Stadtregion/Umland/funktionale Gebiete) weist die Neue Leipzig-Charta Schnittmengen mit ihrem räumlichen „Zwillingsdokument“, der Territorialen Agenda 2030 auf, die einen Tag später verabschiedet wurde. Während die Charta sich auf Stadtentwicklung konzentriert, liegt der Fokus der Agenda, die den Titel „Eine Zukunft für alle Orte“ trägt, auf einer ausgewogene Raumentwicklung in Europa.

Handlungsfähigkeit der Städte stärken

Zentrales Anliegen der Neuen Leipzig-Charta ist es, Städte in ganz Europa zu stärken und sie handlungsfähig zu machen, damit sie mit Klimakrise, Ressourcenknappheit, Migration, dem demografischen Wandel, wachsenden sozialen Unterschieden, der Digitalisierung, rasanten Veränderungen der Wirtschaft oder Pandemien umgehen können. Dafür brauchen sie passende rechtliche Rahmenbedingungen, eine adäquate finanzielle Ausstattung, genug qualifiziertes Personal sowie die Möglichkeit, Infrastrukturen, öffentlichen Dienstleistungen und Daseinsvorsorge im Sinne des Gemeinwohls zu steuern. Da unsere Städte immer „voller“ werden, ist dies besonders relevant in Hinblick auf die Bauland- und Bodenpolitik. Das gleiche gilt für eine aktive Gestaltung der digitalen Transformation. Denn wie Kommunen Prozesse digitalisieren und mit den immer größeren Datenströme umgehen, entscheidet über ihre Zukunftsfähigkeit.

Eine nationale Stadtentwicklungspolitik, wie sie in Deutschland mit der Leipzig Charta von 2007 etabliert wurde, trägt zum Austausch zwischen Städten sowie Akteuren auf Länder- und Bundesebene bei. Sie unterstützt die Kommunen mit Förderprogrammen und gibt Anreize, Neues auszuprobieren. Die Neue Leipzig-Charta ruft deshalb zur Fortschreibung bzw. Einführung nationaler und regionaler Stadtentwicklungspolitiken in ganz Europa auf. EU-Fördermittel und -programme sowie Finanzinstrumente sind ein wichtiger Baustein für die Stadtentwicklungspolitik in den europäischen Kommunen. Eine starke städtische Dimension in den EU-Strukturfonds sollte deshalb beibehalten werden.

Höhere Resilienz

Den Kern nachhaltiger und resilienter Städte bilden hochwertige öffentliche Räume und Freiflächen in Verbindung mit kompaktem, multifunktionalem Städtebau sowie hohen baukulturellen Qualitäten. Städte, die den Nachhaltigkeitsansatz und die fünf Prinzipien verfolgen, sind zudem widerstandsfähiger gegenüber krisenhaften Ereignissen. Damit gibt die Neue Leipzig-Charta auch eine stadtentwicklungspolitische Antwort zum Umgang mit den dramatischen Auswirkungen der Corona-Pandemie.

Umsetzung im Mehrebenen-System

Ergänzt wird die Charta durch das Umsetzungsdokument „Neue Schritte für die Urbane Agenda für die EU“. Der Pakt von Amsterdam hat 2016 mit der Urbanen Agenda für die EU erstmals eine neuartige Mehrebenen-Zusammenarbeit zwischen EU-Kommission, Mitgliedstaaten und Städten etabliert. Ziel war es, die Rolle der Städte zu stärken und sie besser in EU-Politiken einzubeziehen. Dazu wurden thematische Ebenen-übergreifende Partnerschaften zu wichtigen stadtentwicklungspolitischen Handlungsfeldern auf den Weg gebracht, die Aktionspläne für eine Verbesserung von EU-Regulierung, EU-Förderung und einen europaweiten Wissensaustausch aufstellte (better regulation, better funding, better knowledge). Das Umsetzungsdokument beschäftigt sich damit, wie dieser Ansatz weitergeführt und wie die Prinzipien der Neuen Leipzig Charta durch verschiedene relevante Politikbereichen befördert werden können. Vor allem soll dadurch gewährleistet werden, dass EU-Politiken die Anliegen der Stadtentwicklung künftig noch intensiver aufgreifen.

Breiter Dialogprozess

An der Entstehung beider Dokumente waren verschiedene staatlichen Ebenen sowie vielfältige nationale und europäische Organisationen und Netzwerke aus Wissenschaft und Wirtschaft beteiligt. Die Neue Leipzig-Charta wurde nicht von einem kleinen Expertenkreis in Hinterzimmern geschrieben und verhandelt, sondern in einem breiten, zweijährigen intensiven Dialog erarbeitet. In fünf nationalen Sitzungen (in Berlin und online), und sechs europäischen Sessions (in Brüssel und online) diskutierten die Teilnehmenden das Dokument in seinen verschiedenen Entwurfsphasen und trugen zu seiner Weiterentwicklung bei – von der ersten Grundstruktur im Herbst 2018 bis hin zu Diskussionen über einzelne Details und Formulierungen im Sommer 2020. Dieser Prozess garantiert nicht nur die Qualität des Endprodukts, sondern ist auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Neue Leipzig-Charta einen starken Rückhalt bei den Stadtentwicklung Verantwortlichen auf allen Ebenen hat. Dies schafft gute Startbedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung.

URBACT begleitete den Dialogprozess zur Neuen Leipzig-Charta seit September 2018 mit verschiedenen "City Labs": Städte aus ganz Europa stellten bei den vier Veranstaltungen gute Praxisbeispiele aus europäischen Städten vor und zeigten auf, welche Trends und Entwicklungen die Kommunen besonders antreiben. Zudem wurde der Leipzig-Charta-Prozess bei zahlreichen anderen Expertenrunden und Konferenzen zur nachhaltigen Stadtentwicklung in Deutschland und Europa präsentiert und das Feedback der Teilnehmenden eingeholt.

Schon heute sind die Prinzipien der Neuen Leipzig-Charta Realität

Bereits heute setzen zahlreiche Städte und Gemeinden in Europa die Prinzipien der Neuen Leipzig-Charta um: Sie stellen gemeinwohlorientierte Dienstleistungen zur Verfügung, verfolgen integrierte Stadtentwicklungsansätze und beziehen die Stadtgesellschaft aktiv in Gestaltungsprozesse ein. Auch die Zusammenarbeit aller politischen Verwaltungsebenen und die Ausrichtung von Konzepten und Förderinstrumenten an der lokalen Situation ist vielerorts gelebte Realität. Von diesen Vorreiter-Kommunen können andere Städte viel lernen. Es ist somit wichtig, ihnen, genau wie der Neuen Leipzig-Charta, eine Bühne zu geben, damit möglichst viele andere von diesem Erfahrungsschatz profitieren können.

Der Deutsche Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung (DV) war im Auftrag des Bundes maßgeblich an der Erarbeitung der Neuen Leipzig-Charta beteiligt. Der DV ist zudem die nationale URBACT-Kontaktstelle (NUP) für Deutschland und Österreich und setzt sich auch in dieser Rolle für den Austausch und Wissenstransfer europäischer Städte ein. Mit der Veranstaltungsreihe „Europe’s Cities Fit for Future“ zur europäischen Stadtentwicklungspolitik hat der DV im September 2020 den europäischen Kommunen eine Bühne gegeben, die das neue Leitdokument bereits heute umsetzen. Die Reihe wird in der ersten Jahreshälfte 2021 auf nationaler Ebene fortgesetzt.

Copyright:

Graphik: © BMI, Dominique Breier
Fotos des Dialogprozesses (von oben nach unten: Dialogsitzung im November 2019 in Brüssel, Dialogsitzung im Oktober 2019 in Berlin, erster Entwurf der Leipzig-Charta vom Juni 2018): © DV, Heike Mages
 

Submitted by Heike Mages on 17/12/2020
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Heike Mages

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