„Wenn nichts mehr geht, geht nur noch gehen“

Edited on 21/09/2021

Wie das Spazieren während der Pandemie den öffentlichen Raum beeinflusst

Während der strengen Corona-Einschränkungen und des Lockdowns waren viele Freizeitaktivitäten im öffentlichen Raum nicht mehr erlaubt. Cafés und Restaurants boten nur noch Speisen und Getränke zum Mitnehmen an und teilweise waren der Einzelhandel und jegliche Sport- und Kultureinrichtungen geschlossen. Der Aufenthalt im öffentlichen Raum war vorübergehend gänzlich untersagt. Neben dem Individualsport war dagegen das Spazieren in Deutschland als einzige Tätigkeit in allen Phasen der Corona-Einschränkungen erlaubt. Viele Menschen entdeckten so freiwillig oder gezwungenermaßen diese neue Freizeitaktivität für sich. Wie wirkt sich diese wiederauflebende Praxis auf unsere Wahrnehmung und auf die Nutzung des öffentlichen Raums aus?

Öffentliche Räume mit Aufenthaltsqualität schaffen: Spazieren im Kontext von Soziologie und Stadtplanung

Nicht nur bekannte Stadtsoziologen wie Henri Lefebvre oder Michel de Certeau sind sich einig, dass die Menschen und ihre Aktivitäten Räume bestimmen. Auch in der Stadtplanung und Architektur ist dieser Ansatz mittlerweile verbreitet. Davon zeugt die „Place-Making“-Tradition der Stadtplanung, die sich in den 1970er und 80er Jahren bildete und bei der es darum ging, dem Zerfall des öffentlichen Lebens und seiner „Ortslosigkeit“ entgegenzuwirken. Ihr Ziel war und ist es, attraktive öffentliche Räume zu gestalten. Ein bekannter Vertreter dieser Denkrichtung ist der Architekt Jan Gehl, der fordert, dass Städte „erst Leben, dann Räume, dann Gebäude haben sollten“.  Er zeigte in seiner Studie „Life between buildings“, wie sich die Stadtplanung durch die Beobachtung der Nutzung öffentlicher Räume an der Bedürfnislage der Menschen orientieren kann. Darauf aufbauend identifizierte er detaillierte Methoden, um die „Aufenthaltsqualität“ öffentlicher Räume zu verbessern. Diese Entwicklungen der „Place-Making“-Tradition in der Stadtplanung haben maßgeblich dazu beigetragen, dass man heute über den öffentlichen Raum nicht nur im Sinne einer Eigentumsordnung spricht, sondern darunter auch Straßen, Plätze und Orte des öffentlichen Lebens versteht. Die Aufenthaltsqualität ist aktuell eine zentrale Kategorie für die Planung öffentlicher Räume. Dies wird in Deutschland nicht zuletzt an zahlreichen Handbüchern zur Gestaltung des öffentlichen Raums deutlich. Doch nicht nur der Aufenthalt spielt eine Rolle für die Qualität öffentlicher Räume, auch die Bewegung, wie das Spazieren, ist dafür relevant, wie in Zeiten der Pandemie deutlich wurde.

                               

                                  

Lockdown: Spazieren wird das einzige Fenster zum städtischen Leben

Während des Corona-Lockdowns war das Spazieren die einzig mögliche Freizeitaktivität – vor allem, weil es die Möglichkeit bot, andere Menschen mit Abstand und somit geringerer Gefahr der Ansteckung zu treffen. So sah man in Berlin seit dem Ausbruch der Pandemie im März 2020 nicht nur im Frühling und Sommer Zweiergrüppchen mit einem Kaffee oder Bier zum Mitnehmen beim Spazieren – auch in der kalten Jahreszeit wurde die Bewegung draußen beibehalten, dann mit einer Thermoskanne Tee oder Glühwein. Doch das Spazieren war in diesen Zeiten nicht nur ein Vehikel, um Freunde zu treffen – es wurde generell zur einzigen verbliebenen Möglichkeit, in Kontakt mit dem zu treten, was vom städtischen Leben übrig war. So bekam diese Aktivität immer mehr auch darstellenden Charakter. Der öffentliche Raum wurde mitunter als eine Art der Bühne wahrgenommen und genutzt, wenn auch nicht immer bewusst: Das Spazieren war der einzige Weg, andere – auch unbekannte – Menschen in der Stadt zu sehen oder um gesehen zu werden. Nach einem Tag zu Hause im Home-Office, beim Home-Studium oder bei der Kinderbetreuung bekam der Moment des Spazierens im Alltag dadurch eine neue Bedeutung. Gleichzeitig wurde das Spazieren nicht nur zu einem körperlichen Freiraum, sondern auch zu einem mentalen: So hörte man zum Beispiel von der Praxis, im Home-Office den Arbeitsweg durch einen morgendlichen Spaziergang um den Block zu simulieren oder mittags oder abends eine Runde rauszugehen, um den Kopf freizubekommen.

Ausweichmanöver: Städtische Ignoranz weicht bewusstem Verhalten und Achtsamkeit

Insbesondere die Interaktionen zwischen den Menschen waren es, die beim Spazieren während der Pandemie für den öffentlichen Raum relevant wurden. Dabei ist es auch interessant, die Ausweichmanöver der Menschen in den Blick zu nehmen, die versuchten, den geforderten Abstand von eineinhalb Metern zu Mitmenschen in engen Straßen einzuhalten. Dieses aneinander Vorbeigehen, dem vor der Pandemie keine Beachtung geschenkt wurde, wurde vielen nun bewusst. Die Menschen sahen sich an, versuchten durch den Augenkontakt zu erkennen, wer ausweichen würde, bedankten sich, lächelten sich an, oder kommentierten das neue Verhalten. Zwar gab es auch die Fälle von Rücksichtslosigkeit und Unachtsamkeit, im Großen und Ganzen nahm das Bewusstsein für die Nähe zu anderen Menschen jedoch zu.

Spazieren öffnet Raum der flüchtigen Begegnungen

Diese Momente der Interaktion durch den Augenkontakt zu anderen Menschen und das einander Ausweichen spiegeln das wider, was den öffentlichen Raum in Bezug auf das Spazieren während der Pandemie ausmachte. Es war ein Raum der flüchtigen Begegnungen. Das mag selbstverständlich erscheinen. Was hier aber deutlich wird, ist ein städtischer Umgang der Menschen miteinander im öffentlichen Raum, der nicht in klassische Kategorien passt. So scheint es auf der einen Seite den öffentlichen Raum der „face-to-face“-Begegnungen zu geben: Menschen treten in Dialog miteinander und müssen sich dafür am selben Ort aufhalten. Oder aber man spricht von dem öffentlichen Raum, der von Gleichgültigkeit und Anonymität geprägt ist: Die Menschen laufen aneinander vorbei, ignorieren sich. Was beim Spazieren während der Pandemie deutlich wurde, liegt genau zwischen diesen beiden Formen. Die Möglichkeit dieser flüchtigen Begegnungen, die auf einer Aufmerksamkeit gegenüber anderen basieren, war ein wichtiger Grund für das Spazieren in Zeiten der Pandemie. Diese Tatsache macht aber auch deutlich, dass diese Form von städtischen Verhalten wichtig für den öffentlichen Raum ist und sie bei seiner Gestaltung berücksichtigt werden sollte.

Spazieren als Akt der Stadtgestaltung

In den städtebaulichen Debatten über die Aufenthaltsqualität wird das Spazieren teilweise schon als „Place-Making“ verstanden. So findet man in vielen aktuellen Broschüren zur Gestaltung des öffentlichen Raums immer wieder den Aspekt des Flanierens, der mit der Aufenthaltsqualität zusammen gedacht wird. Allerdings wird es dabei oft in Bezug mit einer Einkaufsstraße und dem damit verbundenen Konsum gesetzt. Wie wir gesehen haben, war es aber nicht der Konsum, der die Menschen zum Spazieren bewegte, zumal zeitweise nahezu alle Geschäfte – bis auf Lebensmittelläden, Drogerien und Apotheken – geschlossen hatten. Nein, es waren vielmehr die Begegnung mit anderen Menschen und der Stadt. Für diese Aktivität sollte es Raum geben – auch jenseits der Pandemie. Der in den USA entwickelte Walkscore bestätigt die Relevanz des Gehens in der Stadt. Er bemisst Städte nach ihrer Begehbarkeit, etwa durch Faktoren wie die Erreichbarkeit von Geschäften, Grünflächen, aber auch durch Platzgestaltung. Aber nicht nur diese beiden Aspekte machen deutlich, dass dem Spazieren in der Stadt gesellschaftliche Bedeutung beigemessen wird. Gerade auch in Zeiten der Pandemie zeigten Ereignisse wie das Sperren von Straßen, damit die Menschen sich zu Fuß mit mehr Abstand bewegen können, die Signifikanz dieser Aktivität im öffentlichen Raum auf.

Spazieren: Relevanz jenseits der Pandemie

Auch jenseits der Pandemie braucht eine Stadt öffentliche Räume zum Spazieren. Dafür bedarf es mehr Raum für Fußgänger:innen. Temporäre Straßensperrungen sind ein interessanter Ansatz, der auch nach der Pandemie sinnvoll ist. Sie bieten die Möglichkeit, Straßenräume zu erkunden, die sonst durch den Verkehr belegt sind. Genau dieses Entdecken der Umwelt ist zentral für das Spazieren. Es sollte aber auch mehr permanente Räume für zu Fuß Gehende geben. Dabei ist es wichtig, dass nicht nur Einkaufsstraßen zum Flanieren angedacht werden, es braucht dafür auch konsumfreie Räume in der Stadt. Insbesondere sollten diese Räume nicht nur in den Innenstädten und Stadtteilzentren sein, sondern gleichmäßig auf die Viertel verteilt. Darüber hinaus lässt sich diese Diskussion gut in den Trend zur Mischnutzung der Städte einordnen. Denn es wird dort gerne spaziert, wo man, neben Menschen, eine interessante Umgebung zu entdecken hat. Monofunktionale Einkaufsstraßen sind dafür kontraproduktiv. Eine Mischung von verschiedenen Nutzungen durch Initiativen der Kultur- und Kreativwirtschaft, Gastronomie, Bildungseinrichtungen, Gemeinwesenarbeit und Wohnformen, schafft abwechslungsreiche Straßenräume, die das Spazieren attraktiv werden lassen.

Weitere interessante Impulse, Beobachtungen und Perspektiven zum Stadtleben während der Corona-Pandemie zeigt auch das Playbook der Urban Change Academy. In drei Teilen wird vorgestellt, wie Städte und Bürger:innen mit der Krise umgehen und welche Handlungsoptionen sich daraus ergeben.

Text von Lilian Krischer basierend auf einem Kapitel ihrer stadtanthropologischen Masterarbeit mit dem Titel „‘Wenn nichts mehr geht, geht nur noch gehen‘. Spazieren als alltägliche Praktik im öffentlichen Raum in Zeiten einer Pandemie“.

Alle Fotos © Lilian Krischer.

Titel entlehnt von Jonas El-Shaikh. „Spazierengehen im Corona-Shutdown: »Wenn nichts mehr geht, geht nur noch gehen« - DER SPIEGEL“, 28. Februar 2021.

Submitted by Heike Mages on 16/09/2021
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Heike Mages

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