Städtische Armut und die Pandemie - Wir erleben nicht nur eine Gesundheitskrise.

Edited on 30/06/2020

Covid-19 ist nicht nur eine Gesundheitskrise - es ist auch eine soziale und wirtschaftliche Krise, die die Ärmsten am härtesten trifft. In diesem Artikel untersucht URBACT-Experte Ivan Tosic, was dies für die Bemühungen von URBACT bedeuten könnte, lokale Lösungen zur Bekämpfung der städtischen Armut zu unterstützen.

Wir wussten bereits, dass Armut mehrdimensional ist, und URBACT hat bereits lange vor Covid-19 an einem Papier gearbeitet, in dem neue, verstärkte Bemühungen gefordert wurden, städtische Armut zu bekämpfen.

Doch jetzt nehmen die Ungleichheiten noch weiter zu und werden immer sichtbarer. Unterschiede in der Qualität der Arbeitsplätze und der Wohnverhältnisse der Menschen verschärfen die Ungleichheit in der Lebensqualität zwischen Arm und Reich während des Lockdowns. Noch gravierender ist die Tatsache, dass ärmere Gemeinden nachweislich stärker von Covid-Infektionen und Todesfällen bedroht sind.

Die gegenwärtigen Unsicherheiten verstärken nur noch die Bedeutung der Prinzipien, die URBACT in seiner langen Geschichte der Maßnahmen gegen städtische Armut gefordert und unterstützt hat. Diese Prinzipien beruhen darauf, Stadtviertel mit den größten sozioökonomischen Schwierigkeiten zu priorisieren sowie  partizipatorische Prozesse und Co-Creation mit den Akteuren vor Ort zu stärken.

 

Die Geschichte der städtischen Armut und URBACT

URBACT wurde 2006 als Nachfolgeprogramm von URBAN, der sehr erfolgreichen gebietsbezogenen Initiative, die auf eine integrierte Entwicklung benachteiligter Stadtviertel abzielt, ins Leben gerufen. Schon zu Beginn von URBACT I waren direkt armutsbezogene Themen ein wichtiger Schwerpunkt, darunter benachteiligte Stadtviertel und aktivere Inklusion.

Ab Mitte der 2010er Jahre zielte eine der ersten Bemühungen URBACTs zur gewinnbringenden Nutzung des gesammelten Wissens aus der Netzwerkarbeit darauf ab, Lehren und Überlegungen zur integrierten Sanierung benachteiligter Gebiete als Beitrag zur europäischen Stadtentwicklungsagenda zusammenzutragen und zu verbreiten. In jüngerer Zeit hat URBACT aktiv mit der Partnerschaft zur Bekämpfung der städtischen Armut im Rahmen der städtischen Agenda für die EU zusammengearbeitet.

Das daraus resultierende Policy Paper „The Local Pact: a new approach fortackling urban poverty“ zeigt einen politischen Rahmen für Staaten und Städte auf, der gebietsbezogene Ansätze fördert und kombiniert das mit Prozessvorschlägen für die Gestaltung und Umsetzung von Maßnahmen zur Armutsbekämpfung, die auf Bedarfe der Menschen ausgerichtet sind. Es ist die Kombination der beiden Ansätze, die entscheidend ist. Dies sollte sich gut in die geplante kohäsionspolitische Architektur unter der Leitagenda des Green Deals einfügen.

So war die Situation bis Anfang 2020: Obwohl sich die Mitgliedsstaaten nicht auf den mehrjährigen Finanzrahmen für den Zeitraum 2021-2027 einigen konnten, erwarteten alle eine Einigung vor Ende 2020 und dem Beginn der neuen Förderperiode. In unserem Papier zum Local Pact forderten wir erhebliche Finanzmittel und angemessene Instrumente, um die am stärksten benachteiligten Gebiete zu erreichen.

 

Dann kam Covid-19

 Innerhalb weniger Wochen stand die Welt auf dem Kopf. Neben den direkten Auswirkungen auf die Gesundheit waren und sind auch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen enorm. Viele Wirtschaftszweige kamen zum Stillstand, wodurch die Arbeitslosigkeit dramatisch anstieg. Die verschiedenen Maßnahmen, die zur Eingrenzung des Virus beschlossen wurden, haben das Leben der Menschen radikal beeinflusst, bestehende soziale Probleme verschärft und neue geschaffen.

Obwohl jeder von den Lockdown-Maßnahmen betroffen ist, ist es klar, dass die Bürgerinnen und Bürger sehr unterschiedliche Voraussetzungen haben, um den Schwierigkeiten und Einschränkungen zu begegnen. Am stärksten betroffen waren diejenigen, die bereits am stärksten von Armut und Ausgrenzung bedroht waren. Die Art der Beschäftigung und die Wohnverhältnisse sind Schlüsselfaktoren für die Aufrechterhaltung von Einkommen, Gesundheit und Lebensqualität während der Quarantäne.

Gleichzeitig sind auch viele Familien, die sich in relativ sicheren Positionen befanden, zunehmend gefährdet. Bei Armut ging es nie nur um Einkommen - sie war schon immer mehrdimensional. Aber mehr denn je können wir die Auswirkungen von Ungleichheiten auf die Qualität des Zugangs zu Beschäftigung, Nahrung, Wohnung, Breitband, Bildung, soziale Netzwerke und Unterstützungsdienste sehen.

 

Wie Städte unterstützen

Die Reaktionen der öffentlichen Hand auf die plötzliche Pandemie werden von den nationalen Regierungen geprägt, was zu einer starken Zentralisierung der politischen Entscheidungsfindung führt. Die nationalen Entscheidungsfindungsprozesse und sozialen Sicherungsysteme sind jedoch sehr unterschiedlich und in einigen Ländern fallen einige Gruppen durch das Raster, welches teils durch jahrelange Sparmaßnahmen noch vergrößert wurden. Hier müssen auch lokale Regierungen eingreifen, ob sie die finanziellen Mittel dafür haben oder nicht.

Die Kommunen befinden sich plötzlich in einer seltsamen und schwierigen Situation. Einerseits sind sie sehr stark den höheren Ebenen der Verwaltung und der politischen Macht untergeordnet. Auf der anderen Seite wird ein vielfältiger Handlungsdruck durch soziale und wirtschaftliche Probleme vor Ort immer größer und sie müssen reagieren.

In den europäischen Ländern habe ich viele Beispiele dafür gesehen, wie die Kommunen bei einer Reihe von politischen Themen eingriffen, um die Probleme der am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen anzugehen:

 

  • Wohnen: Viele Städte haben Maßnahmen wie ein Moratorium für Zwangsräumungen, Beschränkungen für Mieterhöhungen (bei gleichzeitiger Unterstützung von Mietern und Vermietern), Hilfe für Hypothekengläubiger etc. eingeführt. Siehe die von 'Arena for Journalism in Europe' gesammelten Beispiele.
  • Obdachlosigkeit: Die Bemühungen der Städte konzentrieren sich darauf, die Kapazitäten und die Sicherheit von Unterkünften zu erhöhen und auch alternative Unterkünfte, sogar Hotelzimmer für die Ärmsten, anzubieten. Beispiele wurden kürzlich vom Economist, EU Observer und El Pais (in Spanisch) hervorgehoben.
  • Ghettogebiete, vor allem außerhalb der Großstädte, befinden sich in einer sehr schwierigen Lage die Kommunen stellen oft ganze Gebiete unter Quarantäne, während sie gleichzeitig eine Grundversorgung mit Nahrungsmitteln gewährleisten (rumänische, slowakische Beispiele).
  • Demokratisierung des öffentlichen Raums: Viele Städte, wie z.B. Mailand und Brüssel, schaffen neuen Raum für Fußgänger und Radfahrer zu Lasten des motorisierten Individualverkehrs . Tactical Urbanismus und Urban Commoning können neue Instrumente und Ansätze bieten, um öffentliche Räume zu überdenken und umzugestalten und gleichzeitig stärker marginalisierte Gemeinschaften zu unterstützen. 
  • Lebensmittelversorgung: Es gibt viele URBACTStädte, die Lebensmittelproduktion, Hauslieferdienste oder Notfallmaßnahmen zur Verhinderung von Hunger unter den Ärmsten unterstützen. Lesen Sie hierzu auch auf einen neuen Artikel auf der URBACTWebsite über Lebensmittel und Covid19!
  • Inklusive Bildung: Städte können die Qualität und die Inklusivität der OnlineBildung verbessern, indem sie ihr Angebot ausbauen und den Zugang zu digitalen Tools ermöglichen (z.B. verteilte Den Haag 330 Laptops an Familien mit niedrigem Einkommen). Sehen Sie sich hierzu auch die von Eurocities gesammelten Beispiele und auch die Plattform School at Home! an, die von der federführenden Stadt des URBACTNetzwerks On Board ins Leben gerufen wurde.
  • Altenpflege: Viele Städte kämpfen gegen die Gesundheitsrisiken, denen viele ältere Menschen in Pflegeeinrichtungen und in ihren eigenen vier Wänden, wo die Herausforderung oft in der Einsamkeit der Menschen besteht, ausgesetzt sind. Beispielsweise arbeitet Bilbao mit den Bürgerinnen und Bürgern zusammen, um gefährdete Mitglieder der Gemeinschaft, insbesondere ältere Menschen, zu schützen.

Laufende Unterstützung von URBACT für lokale Antworten

 Die Finanzkrise von 2008/9 führte zu innovativen lokalen Lösungen, aber diese verschwanden, als die Welt zum "business as usual" zurückkehrte. Dasselbe darf diesmal nicht wieder passieren. URBACT kann eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung der laufenden Vernetzung und des Austauschs zwischen europäischen Städten spielen, um neue kreative Ansätze zu unterstützen und bestehendes integriertes Handeln und partizipatorische Ansätze weiter zu fördern.

Bereits von URBACT-Netzwerken und -Städten erzielte Ergebnisse sollten nicht vergessen werden, auch zu Themen wie Ernährung, Bildung, soziale Innovation und temporäre Nutzung. In der Zwischenzeit können neue URBACT-Städte-Netzwerke weitere kreative lokale Lösungen für einige der Herausforderungen, die durch Covid-19 verschärft werden, an vorderster Front erproben. Dazu gehören die neu geschaffenen Netzwerke zu den Themen Obdachlosigkeit, Sozialwirtschaft und städtische Gemeinschaftsgüter - sowie eine laufende URBACT-Kapitalisierungsmaßnahme zum Recht auf Wohnen.

Gleichzeitig muss klar sein, dass die Städte die zunehmenden und komplexen sozialen Probleme nicht allein bewältigen können. Es ist dringend geboten, die Klima-, Sozial- und Wirtschaftskrise gemeinsam anzugehen. Diese Ambitionen sollten im Green Deal, der künftigen Kohäsionspolitik und allen damit verbundenen Politiken und Instrumenten klar dargelegt werden. Notwendig sind auch neue Arten von EU-weiten Wohlfahrtssystemen, die die soziale Säule der Staatengemeinschaft stärken. Aufbauen könnte dies z.B. auf Prinzipien wie Mindestlohn, universelles Grundeinkommen oder Housing First.

Wahrscheinlich muss URBACT eine noch stärkere Rolle bei der Positionierung lokaler Politiken und Lösungen auf Stadtebene innerhalb solcher politischen Strukturen auf mehreren Ebenen spielen. Mehr denn je müssen reformierte EU- und nationale Politiken lokale Innovationen unterstützen und dürfen sie nicht behindern.

 

Aus dem Englischen von Hauke Meyer.

Den Artikel in der Originalversion finden Sie hier.

Submitted by Hauke Meyer on 30/06/2020
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Hauke Meyer

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